Ärztliche Weiterbildung

Interview mit Dr. Olivia Lenoir

19-10-22
Interview: Dr. Olivia Lenoir

Dr. Olivia Lenoir hat das See-Spital an der 'European Summer School of Internal Medicine 2022' vertreten. Im Interview hat sie uns von ihren Erfahrungen und von ihren Zukunftsplänen erzählt.

7 Minuten
Frank Engelhaupt
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Dr. Olivia Lenoir war bis vor Kurzem Assistenzärztin der Inneren Medizin am See-Spital Horgen. Am Ende ihres zweiten Ausbildungsjahres wurde sie dazu ausgewählt, das See-Spital an der European Summer School of Internal Medicine zu vertreten. Im Rahmen des fünftägigen Kongresses hatte sie Gelegenheit, Diagnose und Therapie einer seltenen Erkrankung vor einem internationalen Fachpublikum zu präsentieren. Im Interview hat sie uns von ihrer Zeit in Spanien, vom Austausch mit ihren Kolleg*innen aus ganz Europa und von ihren Zukunftsplänen erzählt.

Menschen, die einem die Freude am Fach vermitteln können, sind für die Ausbildung entscheidend.

Dr. Olivia Lenoir, bis 2022 Assistenzärztin der Inneren Medizin am See-Spital.

Zusammen mit Ärztinnen und Ärzten aus 17 Nationen haben Sie die 'European Summer School of Internal Medicine 2022' in Spanien besucht. Wie muss man sich einen solchen Kongress vorstellen?

“Die Summer School fand in San Lorenzo de El Escorial, ca. 45 km von Madrid entfernt, statt. Der Ort ist bekannt für seine Klosteranlage – sie gilt als grösster Renaissancebau der Welt und ist wirklich sehr beeindruckend. Wir waren in einem Nebengebäude untergebracht, wo sich heutzutage eine kleine private Universität befindet. Die Summer School war eine Art Weiterbildungswoche für Assistenzärztinnen und -ärzte. Wir hatten jeweils von neun Uhr morgens bis sieben Uhr abends Programm – Vorlesungen, Workshops, Team-Events und Fallpräsentationen.”

2022 fand die European Summer School of Internal Medicine in der Klosteranlage von San Lorenzo de El Escorial statt.

Wer darf am Kongress teilnehmen?

“Jede Chefärztin resp. jeder Chefarzt einer Klinik für Innere Medizin kann jemanden aus seinem Team vorschlagen – mit Motivationsschreiben und Lebenslauf. In meinem Fall hat Dr. Turk noch zusätzlich ein Empfehlungsschreiben verfasst. Aus diesen Bewerbungen wählt die Schweizerische Gesellschaft für Innere Medizin dann vier Kandidat*innen aus.”

Was hat den Ausschlag gegeben, dass Dr. Turk Sie zur Teilnahme empfohlen hat?

“Das hat höchstwahrscheinlich mit einem spannenden Patientenfall zu tun, mit dem ich mich intensiv beschäftigt und den ich bereits an einem Kongress in Lausanne vorgestellt hatte. Es ging um ein seltenes Krankheitsbild mit kniffligem Diagnoseprozess, das Antisynthetase-Syndrom. An der Summer School werden u.a. Patientenfälle von den Teilnehmenden selbst vorgestellt – meine Präsentation des Antisynthetase-Syndroms schien hierfür geeignet zu sein.”

Die Teilnehmenden der European Summer School of Internal Medicine 2022 im Innenhof von San Lorenzo de El Escorial.

Ist ihr Vortrag gut angekommen?

“Ja, sehr. Ich habe erzählt, wie es war, als wir im See-Spital den Patienten zum ersten Mal gesehen hatten und noch nicht viel über ihn wussten. Er kam mit Gelenkschmerzen und hatte vor einigen Wochen eine unklare Lungenentzündung. Die Teilnehmenden de Summer School sollten dann in Zweiergruppen herauszufinden, woran der Patient erkrankt sein könnte – eine Art Detektivspiel. Am Schluss habe ich den Fall aufgelöst.”

Was ist denn so besonders an dieser Krankheit?

“Das Antisynthetase-Syndrom ist eine seltene Erkrankung, schweizweit gibt es wahrscheinlich nur etwa zehn Fälle im Jahr. Im Blut bilden sich sogenannte Autoantikörper, die den eigenen Körper angreifen, was sich sehr unterschiedlich äussern kann. Bei unserem Patienten war zu Beginn vor allem die Lunge betroffen. In der Computertomographie sah das aus wie eine COVID-Lunge, deshalb wurden der Husten und die Atembeschwerden lange Zeit als Coronainfektion interpretiert und therapiert.”

Und diese Diagnose hat sich als falsch herausgestellt?

“Ja! Während der Corona-Pandemie hat man täglich solche CT-Bilder gesehen und die Symptome passten – warum sollte nicht auch dieser Patient COVID-19 haben? Man nennt dieses Wahrnehmungsphänomen Availability Bias. Die Wahrscheinlichkeit einer covidbedingten Lungenentzündung war viel höher als eine Erkrankung, die nur bei einem von einer Million Fälle vorkommt. Das hat in diesem Patientenfall zusätzlich dazu geführt, dass eine Lungenentzündung als Diagnose lange akzeptiert wurde und man nicht nach weiteren Ursachen suchte, obwohl sämtliche Tests negativ waren. Das wiederum nennt man Premature Closure. Erst als Gelenkschmerzen und Muskelschwäche dazukamen, wurde die richtige Diagnose gestellt.”

Sind sich Ärztinnen und Ärzte der Möglichkeit solcher Fehleinschätzungen bewusst?

“Das war das Schöne an diesem Patientenfall. Neben der Seltenheit der Erkrankung konnte ich auch auf das Vorhandensein solcher Wahrnehmungsfehler aufmerksam machen. Dadurch hatten die Teilnehmenden einen doppelten Lerneffekt, sie fanden es sehr spannend.”

Programm von neun Uhr morgens bis sieben Uhr abends: Vorlesungen, Workshops, Team-Events und Fallpräsentationen.

Sie waren eine Woche mit Mediziner*innen aus der ganzen Welt zusammen. Hat das Lust gemacht, woanders zu arbeiten?

“Ich bin sehr glücklich hier. Gearbeitet wird überall viel. Niemand hat gesagt: ‘Bei mir ist es gemütlich, Überstunden kenne ich nicht.’ Von daher sitzen wir alle im gleichen Boot. Was es in der Schweiz nicht gibt, sind 24- bis 36-Stunden-Einsätze, zumindest nicht für Assistenzärzt*innen. Darüber bin ich froh. Ich finde Nachtdienste anstrengend genug und weiss nicht, wie meine Kolleg*innen so lange Arbeitszeiten durchstehen. Auf der anderen Seite bildet die Schweiz das Schlusslicht, wenn es um Mutter- und Vaterschaftsurlaub geht. Meine Kolleg*innen in Estland bekommen z.B. eineinhalb Jahre Lohnfortzahlung, um sich um ihre Kinder zu kümmern.”

Sie haben jetzt zwei Jahre als Assistenzärztin am See-Spital gearbeitet. Wie geht es für Sie weiter?

“Ich stamme aus Richterswil und bin stark mit der Region verwurzelt. Deshalb fand ich’s schön, hier im See-Spital einen Teil meiner Ausbildung zu machen. Als Nächstes sind zwei Jahre im Stadtspital Triemli geplant. Mit der Option, auch das letzte der fünf Ausbildungsjahre zur Fachärztin Innere Medizin anzuhängen. Oder ich mache im letzten Jahr etwas Fachfremdes, das steht noch offen.”

Die Innere Medizin bietet ein breites Betätigungsfeld. Für welches Fach brennen Sie?

“Durch den Antisynthetase-Fall und eine Rotation als Funktionsassistentin hatte ich häufig Kontakt mit dem Fachgebiet Pneumologie. Die Zeit bei Dr. Aigner hat mich geprägt, eine Spezialisierung in Richtung Lunge könnte ich mir zurzeit gut vorstellen. Allerdings weiss ich nicht, was die Zukunft bringt. Ich denke, schlussendlich ist es entscheidend, welche Menschen einen umgeben und wer die Faszination und Freude am Fach vermitteln kann.”

 

Frau Dr. Lenoir, vielen Dank für das Gespräch.

Verbindung zu den Leistungen vom See-Spital

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